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edition KRAUTGARTEN
Aus dem Geleitwort von Bruno Kartheuser, Herausgeber der edition KRAUTGARTEN
 
Eine Anthologie – „Blumenlese“ – meint nicht den ganzen Garten und das ganze Feld. Der Begriff  besagt: einer hat den Garten aufmerksam und einfühlend durchwandert, sich beeindrucken lassen und eine (ihm) gefällige Auswahl getroffen. Dies hat für uns Alfred Strasser getan.

Unser Strauß möchte bunt, anregend und facettenreich sein. Er will dazu anstiften, bei diesem und jenem innezuhalten, und den Wunsch vermitteln, mehr zu erfahren.

Dreizehn Autoren laden die Leser dazu ein, literarische Gattungen in Tradition und Moderne zu entdecken, dem tieferen Fühlen einer Region nachzuspüren und sich durch das Prisma ihrer jeweiligen Individualität Welt zu erschließen.
Mit diesen Autoren entbieten wir dem Flecken Ostbelgien eine Hommage, in der die Urbanität und Weltläufigkeit der kleinen Region aufscheinen.

Das Buch soll Neugier auf mehr wecken. Den Autoren soll Respons aus dieser Veröffentlichung erwachsen, z.B. in Form von öffentlichen Lesungen und Schuleinladungen in Ostbelgien und darüber hinaus.

Der Autor, die Autorin sind unverzichtbar auf der kulturellen Visitenkarte jeder Region, die sich selbst achtet.
 
 
Bruno Kartheuser bei der Buchvorstellung in Eupen
 
Hatte unser Band „Ostbelgische Autoren im Portrait“ 1999 noch 7 Autoren vorgestellt, so bietet dieses Buch Einblick in das Werk von 13 ostbelgischen Autoren.
Es sind altbekannte und neue, jüngere und ältere, hier Geborene und Zugezogene; alle wesentlichen literarischen Gattungen sind vertreten – was auch bedeutet, dass die ostbelgische Literatur in der Literatur überhaupt angekommen ist. Dazu brauchte es Zeit. Man darf diese heutige Sammlung als einen Meilenstein in der literarischen Äußerung dieser Region betrachten, weil seit mehr als einem Jahrhundert eher Kargheit im Ausdruck, Unsicherheit sowohl über das Beheimatetsein als auch im Besitz der Sprache vorherrschten und selten Gelegenheit sich bot, innezuhalten und eine Gesamtschau zu unternehmen. Die heutige Bandbreite mit 13 Autoren von dieser Qualität, das bedeutet auch eine Entkrampfung und eine beglückende Selbstfindung für die Gegend insgesamt. 
 
 
 
Aus dem Vorwort von Isabelle Weykmans, Kulturministerin
 
Diese Anthologie wird dreizehn ostbelgische Autoren und ihre nach 1980 erschienenen Texte verdientermaßen wieder ein wenig in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses rücken.
Ich freue mich sehr – und möchte mit dieser Freude meinen Dank an die Herausgeber der Anthologie verbinden –, dass man auch „Zuwanderer“ aufgenommen hat und dass diese Autoren sich offensichtlich mit Ostbelgien identifizieren können.
Mein Ziel ist es, der Literatur in Ostbelgien, in der Deutschsprachigen Gemeinschaft zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Deshalb habe ich diese Anthologie, die im Rahmen des 25-jährigen Jubiläums erscheint, sehr gerne unterstützt. Mein Wunsch ist es, dass in Ostbelgien Literatur wahrgenommen wird, auch die vor Ort produzierte Literatur wahrgenommen wird – und das nicht zuletzt von der nachwachsenden Leserschaft, der Jugend.
 
Martin Walser sagte im ZEIT-Gespräch vom 2. Juli 2007: „Ich habe, hoffentlich, nie pädagogische, politische, religiöse Anmaßung betrieben, um anderen etwas beizubringen. Mir ging es immer darum, mich zu äußern, um zu erfahren, ob ich allein sei mit dem, was ich fühle … Über die historische Belangbarkeit hinaus sind Bücher eine Daseinssteigerung. Und wenn jemand mit meinen Büchern so etwas erlebt, bin ich sehr froh. Das kann man aber nicht beabsichtigen, denn das Schreiben ist das Unwillkürlichste, was es gibt.“
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Leser mit dieser Anthologie eine Daseinssteigerung erleben. Sie macht die „ostbelgische Literatur“ – wenn es so etwas denn gibt – im wahrsten Sinne des Wortes greifbarer. Dass in Ostbelgien Literatur von dieser Qualität produziert wird, ist keineswegs selbstverständlich. Es ist ein Glücksfall! Und deshalb gilt mein Dank neben den Herausgebern auch allen Autoren, denen ich wie dieser Anthologie auch weiterhin viel Erfolg wünsche. Selbst unwillkürlichen
 
 
Aus dem Nachwort von Alfred Strasser  
 
Das Anliegen, die Literaturproduktion in all ihrer Vielfalt zu dokumentieren, wird um so relevanter, wenn in besagter Region zwar ein literarisches Leben ansatzweise existiert, aber das, was man gemeinhin „Literaturbetrieb“ nennt, weitgehend fehlt, nämlich ein funktionierendes Verlagswesen, Literaturzeitschriften, ein Feuilletonteil in der Presse, oder Literaturkritik in den Medien. Ein Lesebuch kann hier punktuell Aufgaben des Literaturbetriebs übernehmen, inventarisieren, Tendenzen aufzeigen, literarische Entwicklungen nachverfolgen, es kann ihn aber nicht ersetzen.

Mit leichtem Gepäck will ein solches Lesebuch für Ostbelgien sein, eines für junge Literatur, das die Arbeit ostbelgischer Autoren der letzten zwanzig Jahre seit dem Erscheinen von Michel Kohnemanns Nachrichten aus Ostbelgien und Leo Wintgens’ Grundlage einer Geschichte der Literatur in Ostbelgien (1986) vorstellt.
Dabei sind ostbelgische Autoren nicht nur diejenigen, die in der Region geboren wurden und heute noch hier leben, sondern auch jene, die der Region zugereist und hier ansässig geworden sind, wie Dietmar Sous oder Wilfried von Serényi, oder in Ostbelgien geborene, die sich andernorts niedergelassen haben, wie Hannes Anderer, Gerhard Heuschen oder Ingo Jacobs.

In der Literaturproduktion Ostbelgiens der letzten zwanzig Jahre finden sich gleichermaßen lyrische und erzählende Texte. In der Lyrik spannt sich der Bogen vom metrisch streng aufgebauten Heimatgedicht eines Emil Gennen über Gedichte in freien Rhythmen, Prosagedichte, Aphorismen, Haikus und lyrische Großformen, wie bei Bruno Kartheuser, Leo Gillessen und Robert Schaus, bis hin zum radikalen lyrischen Sprachexperiment eines Ingo Jacobs.
In der erzählenden Gattung geht die Bandbreite vom kurzen Prosatext (Guido Thomé, Dietmar Sous, Bruno Kartheuser, Gerhard Heuschen) über den breit angelegten Entwicklungsroman (Freddy Derwahl, Leo Wintgens, Hannes Anderer) bis hin zum Kriminalroman (Verena von Asten, Wilfried von Serényi).

Thematisch ist die zeitgenössische ostbelgische Literatur einerseits geprägt von der Hinwendung zu historischen Themen der neueren Geschichte: Neben Emil Gennen, der in seiner Lyrik Eindrücke des Kampfgeschehens von 1944/45 an der durch Ostbelgien verlaufenden Front beschreibt, setzt sich Gerhard Heuschen mit Krieg und Faschismus auseinander. In seiner Kriegskorrespondenz analysiert er deren Ursachen und Auswirkungen auf das Individuum mit dem Ergebnis, dass die ständige Erwartung eines Messias, nicht nur die Gründung von Kirchen, sondern auch das Naziregime ermöglichte und seine Adepten völlig gewissenlos machte. Und es ist dieselbe Erwartung, die die Ausbildung einer nur auf Profit abzielenden kapitalistischen Konsumgesellschaft erlaubt hat.
Mit ihrer individuellen Vergangenheit haben sich in den letzten sechs Jahren gleich drei Autoren in autobiographisch gefärbten Entwicklungsromanen auseinandergesetzt, nämlich Freddy Derwahl, Leo Wintgens und Hannes Anderer. In allen drei Werken wird die Kindheit und Jugend eines Protagonisten in den Ostkantonen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt und gleichzeitig der Begriff Heimat thematisiert, dennoch unterscheiden sie sich in ihrer Erzählstrategie sowie im Ergebnis wesentlich voneinander: Die Hauptfigur in Leo Wintgens’ Roman erfährt Heimat durch die Sprache, den Dialekts des Göhltals, der den ganzen Roman durchzieht und ihm seinen charakteristischen Stempel aufdrückt. Freddy Derwahl hingegen thematisiert vor allem die Situation des Protagonisten als Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit in Belgien und die praktischen Auswirkungen der Autonomiefindung auf sein Leben. Immer wieder tritt die Hauptfigur in den Hintergrund zugunsten einer kenntnisreichen und detaillierten Schilderung des Zeitgeschehens und einer Analyse politischer Entwicklungen. Die Hauptfigur in Hannes Anderers Roman wächst in der Eifel auf. Zu seinen frühesten Kindheitserfahrungen gehört die Begegnung mit dem Tod; die Erinnerung an den sterbenden Urgroßvater, aber auch die lebensbedrohende Krankheit werden zu markanten Erlebnissen. Anderer ist weit davon entfernt, eine ländliche Idylle zu entwerfen; besonders die Schule wird zum Inbegriff des Schreckens. Die Darstellung der Schule in ihrer katholisch-konservativen Erscheinungsform, mit ihren traumatisierenden und manchmal lächerlichen Auswüchsen, ist verbindendes Thema aller drei Romane, wobei sie die Persönlichkeitsentwicklung der Protagonisten ganz unterschiedlich beeinflusst.
Zeitzeugnisse der sechziger und siebziger Jahre sind die Erzählungen von Dietmar Sous, Erinnerungen an eine Zeit, die von politischen und sozialen Utopien geprägt war, an die heute nur noch wenig erinnert. Sinnbild für diese verlorene Zeit ist die Verwandlung von Mariska Verres, einst strahlender Star der Shocking Blue, zu einer übergewichtigen Provinzsängerin, die in Dorfdiskotheken auftritt. Guido Thomé hingegen verortet seine Erzählungen in der Gegenwart, es sind Geschichten über Beziehungen, geprägt von Liebe, Leidenschaft und Desillusionierung. In der Gegenwart spielen auch Verena von Astens und Wilfried von Serényis Kriminalromane; während Verena von Asten mit ihrem im deutsch-belgischen Grenzraum ermittelnden Kommissar Birnbaum der klassischen Detektivgeschichte verbunden bleibt, erzählt Wilfried von Serényi seine Geschichte aus der Perspektive des Opfers einer Intrige, das sich, weitgehend auf sich alleine gestellt, zu seinem Recht verhilft und dafür durch halb Deutschland reisen muss.
Die Landschaft der Heimat, das Dorf und seine Bewohner sind stets wiederkehrende Sujets in der ostbelgischen Lyrik. Emil Gennen hat in vielen Varianten die Schönheit seiner engeren Heimat immer wieder artikuliert. Einen kritischen Blick dokumentieren Robert Schaus und Leo Gillessen. Ländliche Idyllen werden in den oft durch sprachlichen Minimalismus gekennzeichneten Gedichten als falsch entlarvt, surreale Bilder entpuppen sich als Bestandsaufnahme ganz konkreter dörflicher Realitäten.
Politische Missstände in seiner ostbelgischen Heimat thematisiert Bruno Kartheuser entlarvend in seinem Gedicht Strelnikow; seinen „Locus amoenus“, das zum Verweilen einladende schönere Anderswo, wo das Ich unbelastet den Augenblick genießt, hat Kartheuser in Athen am Brunnen an der Akadimias und in den Sommergedichten der Sonnensplitter angesiedelt.
Der östlichen Philosophie sind Leo Gillessens Texte aus der Sammlung Spruch Reif verbunden, wo unmittelbares lyrisches Erleben einer existentiellen Reflexion Platz macht und so wesentliche Bereiche des Daseins hinter der materiellen Welt freilegt.

Manche Einengungen des vorhandenen literarischen Spektrums sind durch die kleine Dimension der Region mit ihren 70.000 Einwohnern bedingt; wohl auch durch die mangelhaften Rahmenbedingungen, oder das noch schwache Selbstbewusstsein der künstlerisch-literarischen Betätigung. Natürlich wären mehr Autorinnen, aber auch ein sich kraftvoll manifestierender Nachwuchs wünschenswert. Wenn man allerdings bedenkt, dass die Anzahl der permanent schreibenden und auftretenden Autoren zunimmt und die Verankerung der Literatur in der Kulturpolitik sich zwar langsam, aber doch sichtbar verbessert, darf man berechtigt hoffen, dass die literarische Palette vollständiger und differenzierter wird. Dieses Lesebuch kann nur mit dem Gegenwartsbefund aufwarten und Spiegel des heutigen bzw. rezenten literarischen Schaffens Ostbelgiens sein.

Die Sammlung Mit leichtem Gepäck will in dem Zusammenhang eine bestimmte Seins- und Lebensart dieser Literatur verdeutlichen: mit wenig Verankerung in Traditionen, vielen Brüchen in der kulturellen Überlieferung, der Bereitschaft, aus der Not eine Tugend zu machen und neue Ufer zu suchen. Existenzielle Exponiertheit drängt sich als unbewusster gemeinsamer Nenner vieler Texte dieser Anthologie auf. Das ist eine Chance gegen Unbeweglichkeit und starre Muster, es ist ein Angebot an die Leser, damit sie sich auf den explorierenden Rundblick dieses Buches einlassen und Ostbelgien literarisch neu entdecken.
  
Alfred Strasser
1957 in Allensteig Niederösterreich geboren, studierte ab 1974 Germanistik, Romanistik und Geschichte an der Universität Wien. Seit 1982 unterrichtet er deutsche Literatur und Landeskunde an der Universität Charles-de-Gaulle in Lille, anfangs als Lektor, jetzt als Maître de conférences. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur Südtirols, Ostbelgiens und Luxemburgs. Seit 2003 Redaktionsmitglied des KRAUTGARTEN. Lebt in Eschweiler Nordrhein-Westfalen und Lille Nordfrankreich.


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Letzte Änderung: 19.11.2007
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