[Home] [Aktuell] [Edition]
Edition KRAUTGARTEN

ANREGUNGEN

Die gesammelten Gedichte von Bruno Kartheuser

Lyrisches Sprechen stellt höchste Ansprüche an Autor wie an Leser oder Hörer. Wenn zudem eine Sammlung von Gedichten als verdichtete Summe eines Menschenlebens vorliegt, muss man solchen Texten einlässliche Lektüre im Sinne eines mitvollziehenden Nachdenkens widmen. Kartheusers Lyrik lebt von prüfender Erinnerung. Er schreibt aus lebenslangem Einvernehmen mit der Natur. Sie als menschennahe Natur und die kritische – immer auch selbstkritische – Erinnerung liefern die poetischen Bilder, mit denen er sich uns mitteilt. Sie werden zu Metaphern, die das anders nicht Fassbare des Lebens in konzentrierter Suggestivkraft erschließen und so die begrifflichen Grenzen sprengen. Stets bewegt Kartheuser sich auf der einen Seite zwischen beglückter utopischer Wahrnehmung des Humanen (“Wissen von glücklichem Leben / inmitten freundlicher Menschen / jenseits der Berge“) und persönlichem Erleiden des Inhumanen, der Dummheit und Gemeinheit auf der anderen (“Der Nebel ist Kelch der / brennenden Tränen, die du / vergossen“). In dieser Spannung ist sein ausgesprochen individuelles poetisches Ausdrucksvermögen angesiedelt. Pointiert und prägnant vermittelt er suggestive Gedankensplitter in Atemlängen, die in uns weiterarbeiten sollen, wie etwa die elegisch getönten drei hämmernden Sätze: “Plätschern der Worte. / Mittendrin Schweigen. / Kieselsteine zum / Hinübergehen.“ In isolierter Wucht wird damit das uns umgebende leere Gerede, das Gewicht des einsamen Schweigens und der Drang nach einem strebenden, entelechischen Leben, das um den Tod weiß, für uns erfahrbar. Eine vergleichbare, bildkräftige Formulierung hat Kartheuser für denselben, ganz diesseitig-konkret gedachten Sachverhalt gefunden in den Versen aus dem Gedicht “Septembermorgen“. Dort heißt es: “Wie Schlehen / auf nackten Zweigen / im Froste reifen / so stark so weise.“ Mit guten Gründen trägt der Schlussteil der Gedichtsammlung die tief reichende Überschrift: “Von jedem Menschen das Gewicht seiner Ewigkeit“. Das gilt ebenso für die längeren Gedichte. Allemal geht es um die von uns zu leistende Metamorphose, um Wert oder Unwert des Menschenlebens, um einfache Humanität in einer weithin inhumanen Welt. Die damit verbundene kritische Verve kann ihre Leidenschaft durchaus aus dem Ekel vor konkret erfahrener Geschichte beziehen. Ein Ausschnitt aus dem lyrischen Zyklus „Strelnikow“ zeigt das drastisch: “Wer ist nichts gewesen / wer längte die Milch mit Wasser / wer schüttete das Kind mit dem Bade aus / wer schärfte für wen das Messer / wer steckte wem das Messer in die Tasche / wer starb in Uniform im Arm seiner Gattin in Königsberg / (und wer hatte ihn dorthin geschickt / wer ihn gerufen) / wer trug eine Uniform unschicklich / wem blieb sie am Leibe kleben / wer fand der Tränen kein Ende / wer hat sich denn überhaupt geschämt“. Das sind die existentiellen Fragen, die sich jeder Leser vorlegen müsste. Kartheuser hat sie in aller Schärfe für uns gestellt. Seine Gedichtsammlung lebt von derartigen Anregungen. Wir sollten sie aufgreifen.

(Theo Buck)

WEITER

© KRAUTGARTEN
Letzte Änderung: 31.10.2015
Mailbox