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Edition KRAUTGARTEN

WENDEL SCHÄFERS ATEMKÜNSTE

Wendel Schäfer ist ein sehr vielseitiger Schriftsteller. Trat er in Grillensang mit Aphorismen und in Seilgetanz und Pflaumenjahre mit Epigrammen an seine Leser heran, so legt er in seinem neuesten Band mit dem Titel Atemkünste Metamorphosen und Miniaturen vor und stellt sich damit in eine lange literarische Tradition, die mit Ovid beginnt und bis in unsere Gegenwart reicht. In kurzen Texten, manchmal sind es nur einige Zeilen, entwirft Schäfer mit wenigen präzisen Sätzen abgeschlossene, mitunter sehr skurrile Welten. Dabei greift er auf Formen wie die Miniatur, die Kurzgeschichte oder das Märchen zurück. Schäfer erzählt von Menschen am Rande der Gesellschaft, von Figuren, die sich aus der Welt zurückziehen, die Angst vor einer konventionellen Existenz und Sehnsucht nach einem anderen, vermeintlich besserem Dasein haben: Die Schlangenfrau gibt ihre Arbeit im Zirkus auf und lebt in der Folge in einem tropischen Gewächshaus selbst als Schlange; der alte Bauer, zieht vom Wohnhaus in die Scheune, wird zu einem einsamen Wolf und ernährt sich hauptsächlich von Mirabellenschnaps; Jan-Norbert hat Angst vor den vielen Giftstoffen in der Umwelt, er reduziert das Atmen und stößt wie eine Pflanz e in einer Stresssituation allmählich alle unwesentlichen Teile seines Körpers ab. Genauso wie Kafka in seiner Erzählung zeigt Schäfer minutiös den Ablauf der Verwandlung: Es sind allmähliche Prozesse, die die Protagonisten die Grenzen zur Tier- und Pflanzwelt überschreiten lassen und die ihren Abschluss erst im Tod finden, der als Katastrophe, aber auch als Vollendung gesehen werden kann. Die Metamorphosen und die daraus entstehenden Traumwelten verweisen uns auf unsere eigenen Daseinsängste und die Sehnsucht, aus unserer bürgerlichen Existenz auszubrechen. Gleichzeitig machen uns Wendel Schäfers Erzählungen aber auch klar, dass eine Verwandlung zu keinem Ausweg führt und ein Scheitern vorprogrammiert ist: Insofern enthalten sie, genauso wie seine Aphorismen und Epigramme, grundlegende Wahrheiten – für jeden von uns.

Alfred Strasser
In KRAUTGARTEN 57, November 2010.


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Letzte Änderung: 1.07.2010
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