Besprechung von André Schinkel
ÜBER DIE STUNDEN GEKROCHEN
Zu Robert Schaus’ Grenzgang-Buch Die andere Seite
Von André Schinkel
Seltsame Dinge geschehen in diesem Jahr, wo das Ende der Aufklärung so deutlich zu den Fenstern hereinblickt wie lange Jahre zuvor nicht, und wo es mit The Endless River ein letztes, das stillste aller Pink-Floyd-Alben anzunehmen gilt, das uns allein den Epochenbruch anzuzeigen bereits ausreichen könnte.
Als Schwanengesang für den Keyboarder des rockmusikalischen Ereignisses, Richard Wright (1943-2008), gedacht, wohnt diesen Klängen eine seltsame, noch einmal berührende Schwingung des Abschieds inne, die berückend ist und entzaubernd zugleich. Oder, mit einem anderen Großen gesprochen – so ist es, wenn es Nacht wird und (nach einer Metapher Wolfgang Hilbigs) „der Urwellen Anfahrt“ beginnt.
Ja, ein endloser Fluss ist es, einerseits der Verunsicherung, andererseits des Herüberwandelns in eine andere Ära. In einem solchem Jahr, in dem die Lehren und das angebrachte Vernunftsgebaren der Menschen völlig aus der Fasson, wo die Rhetorik nur mühsam nicht außer Rand und Band gerät, erscheint mit Robert Schaus’ elegischer Erzählung in 35 Einträgen oder, poetischer gesagt, Blicken eines der stillsten Werke der Saison, stiller noch als das musikalische Schluss-Zirkulieren der Herren Gilmour und Mason.
Die andere Seite ist, wie auch der Untertitel verheißt, ein Grenzgang an der Scheide der Orte entlang: des Ortes, an dem man sich befindet, des Platzes, wohin man (was wieder und wieder, wie es die Coda des Textes auch aufnimmt, scheitert) wechseln möchte. Von Segment zu Segment wird der Verdacht eben dieses Nacht-Werdens erhärtet, ohne dass ein Endzustand erreicht werden kann. So wird der Gang am Hag der Möglichkeiten entlang zu einer lotenden Expedition, sie führt uns immer tiefer in den Prozess des Unterfangens selbst hinein. Und entlarvt sich letztlich im ersten Satz (ohne dass man an dieser Stelle bereits davon wüsste), quasi um die Ecke gedacht, selbst: „Vor mir die See in ihrer ewigen Wiederkehr.“ Der Sprecher dieser in sich kreisenden Fragmente erliegt ihrer Lockung und – gerät immer wieder an den Ausgangspunkt seines Strebens: „Weder Sonne noch Mond zeigten mir einen Weg. Die Brise hob mich empor über Worte, Gesten, Jahre mit ihren abgezählten Tagen und zerstückelten Stunden. Meine Narben begannen zu schmerzen, die Winde mich hin und her zu zerren, wütend, rasend, bis die Zeit sich öffnete und ich erschöpft zu Boden fiel. Da kamen vier kleine Kinder lächelnd auf mich zu und richteten mich auf.“
Die Kinder als wiederkehrendes Moment werden dem Anfang der Folge erhalten bleiben, das Lächeln über den Beginn bis über die Mitte hinaus. Gleichzeitig läuft ein Band aus Tagen, aus Worten und Silben am Sprecher entlang, es übt sich jedes Mal auf das Übertreten der gezogenen Linie ein, sodass nicht zuletzt in der Wiederholung der Effekt einer Endlosschleife aufflackert und verlöscht, erscheint und verschwindet. „Ich wusste, der Horizont würde nie enden und stapfte drauf los.“ Die Landschaft öffnet, schließt sich – nach dem nächsten Abzweig ist man wieder in der alten Nähe, bei sich selbst.
Alle drei – Kinder, Lächeln, der unendliche Horizont – sind gewissermaßen als Symbole einer noch nicht beendbaren Reise zu lesen: „‚Das hat es alles schon mal gegeben‘, sagte ein alter Mann, der rückwärts gegen die Nacht ging.“ Der Sprecher begegnet sich, wohl noch ohne es zu wissen, selbst auf einem seiner späteren Wege. Die Pilgerschaft ist noch nicht zu Ende. In der Auslage eines Fernsehladens wird die Spiegelung offenbar, der Erzähler gerät in Verruf und stürmt davon, durch die Scheibe, zurück.
Die halb irdische, halb geträumte Erzählung in Splittern und Segmenten ist begleitet von Fragen und Stürzen, von denen immer wieder aufgeholfen wird und zu leuchtenden Terrassen hingeführt. „Ich fragte mich, wie viel Zeit noch blieb.“ Der Fluss der Zeit rauscht an ihm vorüber, in sich kreisend, sich selbst stet wiederholend. Am Ufer stehen die Kinder und winken. Gespickt mit einer Fülle Metaphern und Gesten, die zum Teil dem Motivparlando der Märchen entlehnt ist, stürzt Schaus, genauer: das Ich dieser Sequenzen, durch die Welten, um letztlich nicht vom Fleck zu kommen. Aber die in die Blicke eingelegte Handlung kommt vom Fleck, denn sie läuft de facto als Lebensfilm ab.
Eine erschütternde Reise, der man gleichzeitig nicht wünschen mag, dass sie endet. Denn Robert Schaus gelingt in diesem Text etwas, was selbst lockend und, in der Entstellung durch die Mühsal in der Lust zu wechseln, grässlich zugleich ist: er fesselt den Leser in der Beschreibung der Volten und Schleifen dieses Bruches auf der Zeitschliere. Der eherne Satz „Alles hat seine Zeit“, hier scheint er ausgesetzt – man kann durch die Brunnen und Gewässer nur immer den nächsten Ruck des Zahnrädchens bewegen, indes das Rad schier unendlich bestückt scheint. „Ich rieb mir die Augen. Sah dürres Gras, nackte Sträucher und Bäume, in denen ein bleicher Mond sichelte. Hatte ich etwas verschlafen?“
Der Mond, der Begleiter, die Sterbemetapher, noch sichelt er am Betrachter vorbei. Der Übertrittwillige sei noch nicht mit sich im Einklang, heißt es. Später wird er als Vollmond trösten, nicht aber den letzten Eingriff wagen. Eine gewisse Lösung wird erst das Gespräch mit einer Lächlerin bringen, die im zweiten Drittel des Texts auftaucht. Dort mündet die Suche in eine Art Auseinandersetzung, treibt Kavalkaden in schönen Blicken, bis das Bild sich löst und es den Sprecher in ein perspektivisches Chaos treibt.
Ja, es ist auch die Geschichte einer nicht eingelösten Passion, möchte man glauben, darin verborgen, dass es selbst die Läuse dauert. Sie ist der possible Grund des Nicht-hinüber-Wechseln-Könnens. Ein Klavier paraphrasiert die Sonate der Stille, bis denn wenigstens ein Blau anbricht, das den Schmerz erträglich sein lässt. „Noch lag Großes, das wusste ich, in den kommenden Stunden.“ Der Sprecher spiegelt sich im Weinen eines Kinds, leidet und leiht sich ein Wort. In der Coda ergründet er die Schleife.
Das Ende letztlich bleibt offen, wie das langsame Verlöschen eines Traums unter dem Apfelbaum in seinem Garten, wo der Sprecher erwacht. Vielleicht ist der Garten ja die eigentliche Pforte des Übertritts, und es erwartet einen nach bestandener Mühe ein gutes Frühstück mit allem, was zu wünschen ist. Es bleibt zu hoffen, während draußen, in der Aue, der ‚endlose Fluss‘ vorbeigeht: „Ohne einen Hafen in Sicht.“ Am Ende des Gangs, „über die Stunden gekrochen“, bleibt nur das Erwachen zur Besinnung.
Die Knappheit der Sprache, die Schaus für dieses Unterfangen in Bewegung setzt, gepaart mit einigen seiner Holzarbeiten im Bildteil, frappiert und berührt, hat die Wirkung einer ausufernden Epopöe zu den Chatschkaren der eigenen Träume, zu den Pforten dessen, wofür man sich, jenseits von Allem entscheidet … und sei es das Hinüberwechseln in die Anderswelt, in der Hoffnung, dort Ruhe und Erlösung zu finden. Man muss gerüstet sein dafür, und alle offenen Gespräche sollen zuvor abgehakt werden, das könnte eine der Lehren dieses mäandrischen Texts sein. Was für ein zartes, vergebliches, was für ein sehnsüchtiges, aufregendes … und, paradoxerweise, was für ein abgeklärtes Buch.
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